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Aus der Ferne

WIE ALLES BEGANN

An dieser Stelle möchte ich mal über etwas berichten, das in meinen Gedanken und Notizen nur wenig Raum einnimmt, obwohl es ganz unweigerlich mit allem, was man hier so liest, zu tun hat: Meiner Selbst. Oder vielmehr, warum ich mich so ausgiebig mit der Geschichte meines Wohnraums beschäftige.

Seit einer gewissen Zeit sitze ich hier fest. Ich kann meine Wohnung nicht mehr verlassen. Die Gründe dafür sind nicht wichtig, die daraus resultierende Stimmung dürfte den meisten seit 2020 hinlänglich vertraut sein. Wenn man räumlich so sehr eingeschränkt ist, dann hat man verschiedene Optionen, was man mit sich selbst und seiner Zeit anfangen kann. Man kann versuchen, sich physisch in die Ferne zu denken. Man kann seine digitalen Fenster öffnen. Man kann mit Menschen aus aller Welt Nachrichten austauschen oder zoomen. Man kann sämtlichen Kram konsumieren, der irgendwo mal aufgezeichnet wurde. Völlig kontextlos und ohne irgendeinen Bezug zur eigenen Lage. Man kann auch anderes Zeugs konsumieren, das einem bis vor die Haustür geliefert wird. Das alles zähle ich grob gesagt unter Ablenkung oder besser gesagt: Verdrängung. Oder was es für mich eigentlich ist: Negierung des eigenen Daseins im Hier und Jetzt. Es geht mir nicht darum, eine Keule gegen das Internet zu schwingen. Im Gegenteil: Diese digitalen Fenster helfen auch mir, über den Tag und durch mein Leben zu kommen.

Ich gehe einer fast schon völlig automatisierten Arbeit nach, die ich im Homeoffice problemlos ausführen kann. Da ich darin peripher Kontakt zu anderen Menschen habe, vereinsame ich nicht mehr, als es nicht schon vor 2020 der Fall gewesen wäre. Auch kann ich mir sicher sein, dass immer genug Geld auf dem Konto ist, um Miete, Nebenkosten und natürlich alles andere zu bezahlen, was man zu Hause so an Ausgaben hat.

Aber ich schweife ab. Was ich sagen will, ist, dass ich das perfekte Leben in häuslicher Isolation lebe. Der wahre Schlüssel dafür ist aber weder meine routinierte Arbeit noch mein wenig ausgeprägter Durst nach sozialem Austausch und auch nicht meine recht asketische Lebensweise.

Das Geheimnis, warum mir das zu Hause bleiben so leicht fällt, ist, dass ich in Frieden mit meinem Wohnraum lebe.

In den vergangenen Jahren habe ich so gut wie alles, was es über meinen Wohnraum in der Vergangenheit zu finden gibt, herausgekramt. Ich habe mich mit bekannten und unbekannten Ereignissen beschäftigt und versucht, sie im Großen und Ganzen zu verorten. Das Große und Ganze – darauf jetzt weiter einzugehen, würde vom ganz Kleinen ablenken. Denn es war etwas ganz Kleines, ein Detail, welches die Faszination für die Geschichte meines Wohnraums in mir entfachte.



Linienstraße 27, Oktober 1931, Quelle: Landesarchiv Berlin

Ich stieß auf dieses Foto in einer mehr ziellosen Streifzüge durch die Online-Bestände vom Landesarchiv Berlin. Es muss so in etwa am 15. April 2020 gewesen sein. Zu dieser Zeit folgte mein Surfverhalten einer Art Bewusstseinsstrom und die Wochen davor waren, bis auf wenige Ausnahmen, gehüllt in ein Delirium. Ich kann nicht mehr rekapitulieren, warum ich ausgerechnet nach alten Fotos meines Wohnraums suchte.

Jedenfalls war es dann dieses Foto, datiert auf 1931, welches so viele Fragen in mir wach rief. Es war, als würde die Frau, die dort aus dem ersten Stockwerk aus dem Fenster direkt in die Kamera schaute, mit mir sprechen. Es war genau jene Hausnummer und jenes Stockwerk, in dem sich heute meine Wohnung befindet! Diese Person könnte ich sein! Nur eben 91 Jahre später.


Und doch war es nicht das selbe Haus, auch das daran angrenzende Haus existiert nicht mehr, geschweige denn findet sich heute noch ein Fleisch- und Wurstwarenladen im Erdgeschoss. Und natürlich, und das war neben dem Blick der Frau ein weiteres Merkmal, dass mich zugleich tief berührte, gibt es weder in meiner Straße noch weit und breit mehr Schaufenster, die in hebräischer Schrift ihre Waren anpreisen.


Wie jeder Mensch mit durchschnittlicher Allgemeinbildung war mir klar, dass die Geschichte meines Wohnraums keine schöne sein musste. Doch das schreckte mich nicht ab, im Gegenteil, vielleicht war es eine gewisse Faszination fürs Morbide, die mein Interesse umso mehr entfachte. Es ging etwas in mir vor, als wenn jemand in mir etwas angeknipst hätte.

Es schien, als hätte mein dahinvegetierendes Dasein endlich ein Ende. Der Bewusstseinsstrom hatte mich zu diesem Foto und vor einem Berg von Fragen geführt. Wie lange stand dieses Haus? Wie mag es wohl in dem Fleisch- und Wurstwarenladen gerochen haben und vor allem: Wer war diese Frau und was war mit ihr geschehen?

Ich hatte nun eine Mission, um auf diese Fragen eine Antwort zu finden. Und heute kann ich mit Gewissheit sagen, dass diese Mission niemals enden wird. Denn hinter jeder gefundenen Antwort steht ein weiteres Foto, ein Zeitungsartikel oder ein anderes Dokument, welches mich vor neue Fragen stellt.

Die Fenster, sie gehen eins nach dem anderen auf und doch geben sie oft weniger Preis, als zu Beginn erhofft. Doch ich werde sie weiter öffnen, digitale Fenster, die nicht in die weite Ferne sondern in die Vergangenheit reichen. Vieles ist mir auf diesem Weg schon geschehen, was ich vorher für undenkbar gehalten hätte. Und wie in so vielen Geschichten, komme ich immer wieder zu dem Punkt zurück, der am Anfang dieses Beitrags steht und mit dem er konsequenterweise auch zu enden hat: Meiner selbst.


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