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DHARMA EWE

Sabine Ewe ist 18 Jahre als sie im Rahmen der X. Weltfestspiele als Ordnerin am Rosa-Luxemburg-Platz am Bühnenprogramm teilnehmen kann. Gäste aus allen möglichen Ländern sind anwesend und Sabine ist hin und weg von so viel internationalem Trubel. Aus einer einmaligen Nacht mit Prosper, einem Besucher aus Angola, entsteht ein Kind: Dharma, Sitte und Moral im Hinduismus, Erleuchtung im Buddhismus. Mit romantischen Erwartungen kämpft Sabine dafür, ihrer Tochter diesen Namen zu geben und eckt das erste Mal mit dem DDR-Staatssystem an. Davon kriegt auch die Tochter etwas mit: Statt das Kind in die Krippe zu schicken, verbringt Dharma viel Zeit bei „Omi Hertha“, der liebevollen aber auch trinkfreudigen Großmutter von Sabine, die nun bereits die dritte Generation junger Mädchen bei sich in der Linienstraße 230 heranwachsen sieht. Zunächst besorgt, „was wohl die Nachbarschaft über das Neger-Baby sagen wird“, entwickelt Hertha einen neu erweckten Löwenmutter-Instinkt, sollte es einer wagen, ihre Urenkelin auf irgend eine Weise zu kränken. Durch die „große Schnauze“ schafft es Dharma, sich in der Schule selbstbewusst gegen dumme Sprüche zu wehren und wird schnell zum Lieblingskind ihrer Lehrer und zur engagierten Jungpionierin. Beim Altstoffsammeln hat sie ebenso Erfolgserlebnisse wie beim Rezipieren von Thälmann-Liedern. Allein die Mutter ist mit Dharma überfordert - empfindet das Kind von Anfang an als unberechenbar und fremd, mal in sich zurückgezogen und verschlossen, dann wieder laut und ungezähmt, zu stundenlangen Schrei-Arien fähig um an ihr Dasein zu erinnern. Die Mutter empfindet es jedoch als wütende Anklage der Tochter, um eine Kindheit mit dem eigenen Vater betrogen worden zu sein. Ein prinzipielles Missverständnis, das dieses Verhältnis auf immer prägen wird. 
Sabine interessiert sich für die Wissenschaft und Studium und gelangt so in eine moralische Zwickmühle. Zwar will sie ihr Kind nicht vom DDR-Staatsapparat indoktrinieren lassen, kann aber auch nicht die Zeit und den Elan aufbringen, ihrem Kind andere Werte zu vermitteln. Entspannung sorgt erst die Heirat mit U. M., einem Kommilitonen von Sabine. Der Stiefvater schenkt Dharma bisher ungekannte Liebe und Aufmerksamkeit und enthemmt so manche hitzige Situation, die sich zu Hause herstellt, seitdem Sabine immer wieder mit der DDR-Regierung aneinander gerät. Mitte der 1980er Jahre führt dies zum Berufsverbot für die ambitionierte Medizinerin. Sehr zum Unmut der Tochter beginnt die Mutter zwischenzeitlich in der Essensausgabe an Dharmas Schule tätig zu sein. Dann kündigt sich ein weiterer Neuankömmling in der Familie, die nun nicht mehr Ewe sondern N. heißt, an.
Dharma empfindet es als eine Fügung des Schicksals, als die Mutter erneut schwanger wird und sie mit zehn Jahren endlich ein Geschwisterkind bekommt: Der „Kleene“ ist Dharmas große Liebe - ein menschgewordener Puppentraum, den die große Schwester hegt und umsorgt, wohlwissend, dass die gemeinsame Mutter der mütterlichen Wärme unfähig ist. Doch ist ihre Begeisterung für das kleine Würmchen nur von kurzer Dauer. Dharma will ihren Mitmenschen zu neuen, gesellschaftlich relevanten Erkenntnissen verhelfen. Ihr Interesse gilt den Gleichaltrigen: Wie kann man die faulen Klassenkameraden dazu bringen kann, einen Beitrag für die Wandzeitung zu schreiben? Wie erlangt sie die Aufmerksamkeit von Manja aus der Parallelklasse? Ist Gojko Mitic doch der bessere Winnetou, auch wenn sie insgeheim weiß, dass es nicht so ist? Immer wieder ist es die Mutter, die durch ihre unangepasste Art das Leben der Jugendlichen durcheinanderbringt und Folgen mit sich zieht: Dharma wird von den Pionierfahrten ausgeschlossen und darf nicht am Portugiesisch-Kurs teilnehmen. Stoischer Egoismus der ihr Zuvorkommenden verdirbt ihr konstant alle Jugendfreuden.
Als die Mauer fällt und kurze Zeit später die DDR zusammenbricht, empfindet Dharma das als persönlichen Triumph ihrer Mutter gegen alle Sicherheit und Zukunft. Während Sabine in der Bundesrepublik einer vielversprechenden Zukunft entgegen sieht und als Bürgerrechtlerin nun endlich die immer lang erkämpfte Anerkennung erhält, verliert Dharma jede Perspektive. Sie bricht die Schule ab und schließt sich der Hausbesetzer-Szene an. Hier lernt sie „Reggie“ kennen - ihre erste große Liebe aus dem Münsterland, mit der sie ihr linkes Gedankengut an eine neue Lebensrealität anpassen kann. Gemeinsam wollen sie den alles auffressenden Kapitalismus bekämpfen. Dharma radikalisiert sich und ist federführend bei mehreren Aktionen auf das Kino Babylon, das sich im selben Häuserblock wie die Wohnung ihrer Mutter befindet. Die 26jährige Susanne Albrecht führte 1977 Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar in das Haus vom familiären Freund Jürgen Ponto. Damit vergleicht Sabine einen Buttersäureanschlag im Zuschauerraum aus Protest gegen den Dokumentarfilm „Beruf Neonazi", den ihr geliebtes Lichtspielhaus zeigen will. Noch weitrechendere Konsequenzen haben vier Brandsätze, die im Büro des Kinos gelegt werden - als Antwort auf die Einladung des CDU-Politikers Heinrich Lummer auf ein Podium. Auch wenn ihre Rolle in beiden Fällen nicht eindeutig feststehen wird, bekennt sich Dharma zu beiden Taten, wird vorbestraft und verfällt in eine längere Phase, die sie später als “existenzielle Zeit ihres Lebens” beschreiben wird und an deren Ende sie sich wieder vollends fängt.
Sie holt das Abitur nach, studiert dann Soziale Arbeit. Wieder zurück im Sattel steht für Dharma auch eine Rückkehr an: Nach dem Tod von Omi Hertha zieht sie in die frisch renovierte Wohnung in der Linienstraße 230. Dharma hat sich gerade von Dagmar getrennt und ist bereit für eine eigene Bude mit günstiger Miete. Trotzdem sie dreimal die Woche im Aufsturz in der Oranienburger Straße die Bar schmeißt, reicht das Geld nie. Den monatlichen Unterhalt von Sabine nimmt Dharma daher schweigend entgegen. Nach dem Tod der Urgroßmutter hat zwischen Mutter und Tochter eine Annäherung stattgefunden. Zeitgleich wurde der bereits verstorbene Stiefvater als I.M. enttarnt, der seine Informationen über die Aktivitäten der Mutter auch von der kleinen Dharma erhalten hat. Doch ist es bald ein neuer Mann, der das Mutter-Tochter-Verhältnis abermals belastet wird. Sabine heiratet erneut und orientiert sich politisch immer weiter nach rechts. Bei familiären Zusammentreffen werden Konflikte zu politischen Themen mit privaten Vorwürfen vermischt, es kommt erneut zum Kontaktabbruch zwischen den beiden Frauen. Im zehnten Semester von Dharmas Studium stellt Sabine die monatlichen Zahlungen an ihre Tochter ein. Dharmas Lebens wird immer prekärer, sie ist dazu gezwungen, ihr zweites Zimmer unterzuvermieten, häufig wohnen Künstler und Schauspieler aus der Volksbühne und den Sophiensælen für wenige Wochen bei ihr. Nach einer langen Durststrecke und zahlreichen Mitbewohnerwechseln soll sich 2013 endlich berufliche Kontinuität einstellen.
Seit Ende ihres Studiums war sie ausschließlich als Schwangerschaftsvertretung für verschiedene Schulen und gemeinschaftliche Träger als Sozialarbeiterin für einige Monate angestellt. Doch nun unterschreibt sie endlich ihren ersten unbefristeten Vertrag an der Berlin Metropolitan School. Auch wenn ihr die Schule als elitär erscheint, sieht sie genau hier persönlichen Auftrag, die Kinder der „internationalen Bonzen“ andere Perspektiven aufzuzeigen als  die der ökonomischen Verwertbarkeit oder individuellen Verwirklichung. In ihrer Arbeit mit Jugendlichen wird sie immer mehr für das Thema Nachhaltigkeit sensibilisiert. Ein weiteres Streitthema mit der Mutter - die ist nun eine vom Feuillton ernannte Rechtspopulistin und Mitglied in der AfD. Nur widerwillig willigt Dharma 2014 ein, an einem Interview zum Thema „25 Jahre Mauerfall“ teilzunehmen. „Meine Mutter, die BürgerRECHTlerin” wird anschließend die Überschrift sein, mit der der Beitrag in sozialen Medien geteilt werden wird. Die gezielten Interviewfragen verfehlen ihre Wirkung nicht: Dharma redet sich in Rage, plötzlich artikulieren sich Ereignisse, in denen das politische System immer der Ausgangspunkt für Diskussionen war, in einem bitteren Gefühl einer persönlichen Enttäuschung. Angestiftet von einer insgeheimen Hoffnung, die Mutter verlässt den neuen Stiefvater und sieht ihre Fehler ein, plaudert die Tochter einen Verdacht gegen sie aus. 
Ein politisches Statement ist für Dharma der Entschluss, selbst keine Kinder zu bekommen.
Sie will Veränderung und vor allem eine Zukunft für die jüngeren Generationen. Doch auch dabei stößt sie immer wieder auf Ignoranz und wird zunehmend ratlos. 
Besonders das Klientel, was unweit vom Rosa-Luxemburg-Platz lebt und seine Kinder ihn Dharmas Schule schickt, erscheint ihr egoistisch, kalt und wenig der Gesellschaft zugewandt. Ihre Sozialisierung scheint die Kinder zu Abbildern ihrer Eltern werden zu lassen. Der gesellschaftliche Schaffenskreis einer kinderlosen Sozialarbeiterin scheint auf eine wöchentliche Sprechstunde beschrenkt. Erst als die ersten Fridays for Future-Aktionen zum Thema in ihrer Schule werden, bekommt Dharma wieder Zuversicht in die junge Generation. Fast uneingeschränkt stellt sie sich hinter die Proteste der Jugendlichen.
2020 wird auch Dharma vom Ausbruch der Corona-Pandemie und den Maßnahmen zu deren Eindämmung überrascht. Sie kann die Situation nicht abschließend bewerten und fühlt dennoch ein Unrecht, sowohl ihren Beruf nicht ausüben zu können (jetzt, wo ihre Schüler sie doch am meisten bräuchten) als auch den vollen Arm des Gesetzes zu spüren. Zu ihrer Überraschung trifft sie die eigene Mutter auf einer am Rosa Luxemburg Platz initiierten Hygiene-Demonstrationen wieder.

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